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Wie Angst entsteht und wie wir sie heilen können

Angst kennen wir alle. Zum Glück haben wir das starke Gefühl meistens unter Kontrolle und können uns selbst gut wieder beruhigen. Doch was passiert in unserem Körper, wenn es sich verselbstständigt? Wie wird aus Angst eine Angsterkrankung und wie können wir mit ihr umgehen? Ein Gespräch mit dem Angst-Experten Professor Dr. Peter Zwanzger.

Professor Dr. Peter Zwanzger ist ärztlicher Direktor und Chefarzt der Allgemein­psychiatrie und Psychosomatischen Medizin am kbo-Inn-Salzach-Klinikum Wasserburg und Leiter des Forschungsbereichs Angst und Angsterkrankungen an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Herr Professor Zwanzger, warum haben wir eigentlich Angst?

Ängste schützen uns vor Gefahren, lassen uns vorsichtig sein, wenn wir zum Beispiel über die Straße gehen oder eine riskante Investition an der Börse vornehmen wollen. Haben wir in gesundem Maß Angst oder Respekt, begeben wir uns weniger in gefährliche Situationen. Hätten wir keine Angst, würden wir Gefahr laufen, uns dauernd zu verletzen – sie ist also lebensnotwendig. Allerdings können Ängste ein solches Ausmaß annehmen, dass sie nicht mehr normal nachvollziehbar sind und die Kriterien einer Angststörung erfüllen.

Wie entsteht die Angst?

Angst unterliegt unterschiedlichen Einflussfaktoren: psychologischen und biologischen. Genau wie alle anderen Kernemotionen – dazu zählen zum Beispiel Wut oder Ekel – ist sie eine extrem wichtige Emotion. Bestimmte Bereiche in unserem Gehirn sind dabei für die Vermittlung von Gefühlen zuständig. Unter anderem die Amygdala: Sie ist das emotionale Urzentrum, dort werden die Angst und die körperlichen Reaktionen erzeugt. Wenn die Amygdala aktiv ist, wird alles in Gang gesetzt bis hin zum Fluchtreflex.

Weiterhin wichtig ist der Bereich im Gehirn, den wir „präfrontaler Cortex“ nennen. Er ist das Produkt unserer menschheitsgeschichtlichen Entwicklung und unser bewusstes Kontrollsystem. Hier findet die bewusste Bewertung einer Situation statt und diese hat Einfluss auf die Angst: Sie kann eine Reaktion der Amygdala hemmen oder verstärken. Und so entsteht ein gutes Gleichgewicht: Die Angst wird durchgelassen, wenn sie angemessen ist, oder gehemmt, wenn sie nach der bewussten Bewertung unangemessen ist.

Ängste sind natürlich nicht nur etwas rein Biologisches. Psychologische Strukturen spielen eine genauso wichtige Rolle. Uns prägen Lebensereignisse, zum Beispiel, wie wir gelernt haben, mit Angst oder mit Gefahrensituationen umzugehen. Jeder Mensch hat ein anderes emotionales Gefüge: die einen sind ängstlicher, die anderen mutiger und trauen sich mehr. Und so gibt es ein buntes Gemisch aus Charaktereigenschaften. Das ist alles in Ordnung und gesund.

„Hätten wir keine Angst, würden wir Gefahr laufen, uns dauernd zu verletzen – sie ist also lebensnotwendig.”

Professor Dr. Peter Zwanzger

Wie kommt es dann zu einer Angsterkrankung?

Wir können eine Angsterkrankung entwickeln, wenn zum Beispiel unser biologisches System aus dem Gleichgewicht gerät, wenn unsere Botenstoffe im Gehirn die Interaktion zwischen Hirnoberfläche, also zwischen Hirnrinde und der Amygdala stören. Wir können aber auch erkranken, wenn Lebensereignisse so stark oder so intensiv sind, dass sie uns emotional überfordern. Wenn diese Lebensereignisse, auch Trigger genannt, auf eine Persönlichkeit treffen, die in gewissem Maße eine erhöhte Empfindlichkeit beziehungsweise Verletzlichkeit hat, kann dieser Mensch erkranken. Es gibt Menschen, die verkraften Lebensereignisse wie die Trennung vom Partner, den Verlust des Arbeitsplatzes, den Tod eines nahestehenden Menschen gut – sie sind resilient. Andere jedoch werden in eine Depression oder Angsterkrankung hineingetrieben.

Menschen sind also unterschiedlich anfällig für eine Angststörung. Es spielt also eine Rolle, bildlich gesprochen, welchen „Rucksack“ an Genen, Persönlichkeit und Lebensumständen ich mitbringe und welche „Päckchen“ an weiteren Ereignissen noch obendrauf gepackt werden?

Ganz genau, so ist es.

Können äußere Faktoren wie Pandemie, Klimawandel, Ukrainekrieg solche Pakete sein, die den Rucksack noch schwerer machen und eine Angststörung triggern können?

Das ist richtig. Das können solche Pakete sein, die eine Angsterkrankung auslösen. Aber eines ist wichtig: Die Angst vor Corona und vor dem Krieg sind nachvollziehbare Ängste. Das hat erst mal nichts mit einer Krankheit zu tun. Denn wenn ich fürchte, schwer an Corona zu erkranken, ist diese Angst nicht aus der Luft gegriffen. Dies sind reale Sorgen. Wir haben bisher nicht beobachtet, dass diese Sorgen für sich allein genommen die Psyche so stören können, dass man eine Angsterkrankung entwickelt. Es gibt auch keine seriösen Quellen, die solches beschreiben. So etwas wie eine Klima-Angsterkrankung gibt es nicht.

Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell

Das Vulnerabilitäts(Verletzlichkeits)-Stress-Modell zeigt, wie viel Stress wir aushalten können, bevor  psychische Probleme auftreten. Jedes Fass ist individuell, basierend auf genetischen Faktoren, Lebenserfahrungen und erlernten Verhaltensmustern. Ein höherer Fassboden bedeutet geringere Belastbarkeit und ein erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen. Schutzfaktoren können die Verletzlichkeit verringern. Resilienz, die Fähigkeit, flexibel auf Stress zu reagieren, spielt hierbei eine große Rolle. Sie ermöglicht es uns, weniger Stress aufzunehmen und ihn gezielt zu bewältigen – wie ein Deckel für das Stressfass. Schutzfaktoren wie ein gesundes Selbstwertgefühl, soziale Unterstützung und Selbstwirksamkeit stärken die Resilienz und psychische Gesundheit. Indem wir Resilienz aufbauen, können wir aktiv Einfluss darauf nehmen, wie viel Stress in unser Fass gelangt.

Mehr zu diesem Modell erfahren Sie hier.

Was können mögliche Wege sein, Angst­stö­run­gen zu therapieren? Welche Ansätze gibt es?

Zu den psychotherapeutischen Ansätzen gehören alle Ansätze, die verhaltens­therapeutisch arbeiten: Die kognitive Verhaltenstherapie ist die Therapieform der Wahl. Sie ist mit Abstand die am besten untersuchte bei Tausenden von Patientinnen und Patienten. Bei ihr weiß man, dass sie sehr gut bei allen Angststörungen wirkt. Betroffene sollten im besten Fall zu einem Psychotherapeuten beziehungsweise einer Psychotherapeutin gehen, der oder die mit Angst und kognitiver Verhaltenstherapie Erfahrung hat.

Zu den wichtigsten Medikamenten gehören unter anderem die sogenannten selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI). Sie machen nicht abhängig und verändern auch nicht die Persönlichkeit.

In der Folge unseres Audi BKK Gesundheits-Podcasts„Angststörungen, Depressionen und Co.: Auf welche Anzeichen muss ich achten?“ spricht Podcasterin Ilka Brühl über psychische Erkrankungen, Prävention und Maßnahmen. Hier die ganze Folge hören!

Wenn eine kognitive Verhaltenstherapie erfolgreich ist, was geschieht im Gehirn und lässt sich der Heilungsprozess dort sehen, zum Beispiel im MRT?

Erste Studien – zum Beispiel MRT-Studien – zeigen bereits, dass eine erfolgreiche Verhaltenstherapie auch mit der Stabilisierung der Hirnaktivität einhergeht.

Wenn ich von mir weiß, ich bin ein eher ängst­licher Mensch, was kann ich selbst tun, um seelisch stabiler zu werden?

Es ist auf jeden Fall hilfreich, wenn man die Fähigkeit hat, sich selbst zu reflektieren und zu erkennen: Ach, ich vermeide häufig oder ich mache mir zu viele Sorgen, andere sorgen sich viel weniger. Da hilft der Austausch mit dem Partner oder der Partnerin, mit Eltern, Geschwistern und Freunden. Man kann sie fragen: Findest du, dass ich zu zurückhaltend bin, zu ängstlich? Wenn die Antwort ja lautet, ist es wichtig, sich die angstmachenden Situationen zu vergegenwärtigen, vielleicht sogar aufzuschreiben und dagegenzuarbeiten. Im Alltag immer wieder zu üben, bestimmte Situationen, die man gern meiden würde, konsequent aufzusuchen. Wenn ich zum Beispiel Angst vor dem Aufzugfahren habe, sollte ich versuchen, regelmäßig den Lift zu benutzen, oder bei Höhenangst immer wieder aus oberen Stockwerken aus dem Fenster schauen. Da kann man sehr gut gegenarbeiten, weil der Mensch sich irgendwann auch an diese Dinge gewöhnt. Steht man die Angst durch, wird sie immer weniger werden. Es ist wie ein Training.

Sind auch Entspannungsübungen sinnvoll, also Maßnahmen, um den Körper von einem hohen Stresslevel herunterzubringen?

Das ist auf jeden Fall hilfreich. Wir wissen, dass Anspannung bei Angstzuständen eine wesentliche Rolle spielen kann. Entspannungsverfahren, zum Beispiel Meditations­techniken, Relaxationstechniken wie progressive Muskelentspannung nach Edmund Jacobson und Atemübungen können sehr heilsam sein. Auch regelmäßige Bewegung und Sport sind hilfreich.

Invirto gegen Angststörungen

Die Online-Therapie hilft Menschen, die von Agoraphobie (Platzangst), sozialer Phobie oder Panikstörungen betroffen sind. Das Behandlungsprogramm umfasst Schulungsvideos, Training von Angst-Szenarien mit der VR-Brille und persönliche psychotherapeutische Betreuung ohne Wartezeit.

www.audibkk.de/invirto

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Portrait: kbo-Inn-Salzach-Klinikum©AVISIO photography

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